„Free hugs“ in der Fußgängerzone, eine „professionelle Kuschlerin“ in Wien – wie ist es denn damit aus entwicklungspsychologischer Sicht. Kanns solches Kuscheln wirklich gut tun, oder wird da etwas verwechselt?
Eine sehr spannende Frage, denn einerseits klingt es ja nett und offenherzig, „mit irgendwem“ zu kuscheln, andererseits auch etwas befremdlich und „irgendwie komisch“.
Von unserer körperlichen Evolution her sind wir Säugetiere. Wir haben ein großes Bedürfnis nach Bindung, weil unser Instinkt uns sagt: Wenn ich da bin, wo auch die Menschen sind, die für mich sorgen, sind meine Überlebenschance am größten.
Ein Säugling hat also nicht separate Instinkte für Hunger, Durst, Sicherheit etc., sondern EINEN zentralen Instinkt: Er will uns körperlich nahe sein, in der meist richtigen Annahme, dass wir für alle seine anderen Bedürfnisse dann schon sorgen. Sehr praktisch. Kuscheln signalisiert also Verantwortungsübernahme. Ob ich die Katze streichele oder das Baby, die Streicheleinheiten haben neben ihrer als angenehm empfundenen durchblutungsfördernden Wirkung eine Bedeutung: Ich sorge für dich, du kannst dich bei mir entspannen.
Ein völlig hilfloser Säugling lässt sich von jedem bekuscheln – Gegenwehr ist eh aussichtslos, und ein Säugling ist auf jede Hilfe angewiesen, die er kriegen kann. Aber mit dem 5.-7. Lebensmonat setzt das sogenannte „Fremdeln“ ein, das heißt, das Baby konzentriert sein Nähebedürfnis auf eine zentrale Bezugsperson. Alle anderen werden erstmal abgelehnt und nur über Kontakt mit dieser Person „freigeschaltet“. Ein gesundes Kind mit stabilen, nährenden Bindungen will nicht mit jedem kuscheln, sondern nur mit denjenigen, die es kennt und an die es gebunden ist. Das ist ein sinnvoller „Böse-Onkel-Schutz“: Neue Bindungen werden durch vorhandene Bindungen vermittelt, so entsteht ein zusammenhängendes, schützendes „Bindungsdorf“.
Außerdem bleibt diese sich vertiefende Bindung nicht beim rein körperlichen Kuscheln stehen: Das Einjährige bindet sich auch, indem es seine Bezugspersonen nachahmt, das Zweijährige empfindet darüber hinaus Zugehörigkeit und Loyalität, möchte mithelfen und dazugehören, das Drei- bis Vierjährige möchte in seiner Einzigartigkeit als Individuum Wertschätzung erfahren, das Fünfjährgie vertieft diese Bindung, wenn alles gut geht, bis hin zu individueller emotionaler Liebe zu seiner Bezugsperson und möchte ihr im 6. Lebensjahr auch noch sein Herz ausschütten, also seine Gedanken und Gefühle, Erlebnisse, Pläne und Sorgen mitteilen. Diese tiefste Form der Bindung ist auch das, was uns als Erwachsene in unseren Beziehungen im Idealfall trägt. Zum Kuscheln als oberflächlichster, körperlicher Form der Zuwendung kommen also im Laufe der Bindungsvertiefung immer mehr Möglichkeiten, Geborgenheit zu empfinden.
Das heißt: Kuscheln ist in einer vertrauensvollen tiefen Beziehung schön und wunderbar nährend, aber wir können uns in einer tiefen Beziehung auch dann geborgen fühlen, wenn wir gerade nicht kuscheln können, sondern nur liebevoll aneinander denken. Aus diesen tiefen Bindungswurzeln wächst unsere Freiheit, unternehmungslustig in die Welt hinaus zu ziehen, ohne wie ein Baby auf ständige körperliche Zuwendung angewiesen zu sein.
Ein Kuscheln ohne real vorhandene Beziehung dahinter nährt uns also nur auf der alleroberflächlichsten reinen Überlebensebene: Wer so ausgehungert und vereinsamt ist, dass buchstäblich niemand da ist, der freiwillig signalisieren möchte „Ich sorge für dich, du kannst dich bei mir entspannen“ – dem erfüllt solches professionelles bezahltes Kuscheln ein instinktives Bedürfnis nach Wärme und Nähe. Aber dieses Kuscheln ist ein bisschen wie der Duft eines Essens. Es riecht verheißungsvoll nach etwas, was uns satt machen würde – wenn Substanz dahinter wäre. Es fühlt sich an, ALS OB jemand uns lieb hätte.
Was würde mir ein Liebesbrief von jemandem nützen, der mich gar nicht kennt und zu dem ich keine Beziehung habe? Die Worte wären schön, aber hohl, denn es ist buchstäblich „nichts dahinter“. Sie könnten mich vielleicht aufrichten, indem sie die Hoffnung in mir wecken, eines Tages einen „echten“ Liebesbrief zu erhalten, aber aus sich heraus nährend sind sie nicht.
So gesehen sind „free Hugs“ und professionelles Kuscheln für 60€ pro Stunde das Symptom einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen keine realen vertrauensvollen Beziehungen auf tieferen Ebenen haben, so dass sie versuchen müssen, sich mit der alleroberflächlichsten, unverbindlichsten, unverletzlichsten Form von Bindung den ärgsten Bindungshunger zu stillen.
In einem alten Märchen hält in einer Herberge ein Bettler sein Brot in den Bratenduft, der vom Bratspieß des Reichen ausgeht. Dieser verlangt dafür Entlohnung, die Sache geht vor den Richter, und dessen weises Urteil lautet: Da der Bettler den Duft des Bratens „gestohlen“ hat, soll er den Reichen mit dem Klang des Geldes entschädigen…